Sonntag, 9. September 2012

Pilgerfahrt nach Fatima


Der Bus hält in Fatima inmitten von Wohnblöcken, sodass man sich bewusst wird, dass hier Leute wohnen, für die Fatima nichts anderes ist als ein Wohnort, wie Brüttisellen für die Brüttiseller. Und deshalb gibt es hier auch eine Apotheke, einen Lebensmittelladen, eine Weinhandlung, eine Bäckerei mit Tea room, einen Coiffeur. Und sogar ein Büro für Webdisgn preist seine Dienste an.
Wer dann zur Hauptgasse hochgeht und in die Richtung der Pilgerstätte einbiegt, kommt an ersten Läden vorbei, die religiöse Souvenirs anbieten, wie dies in Brüttisellen unvorstellbar wäre. Unsere Liebe Frau gibt es hier in Fatima in allen Grössen und Preislagen zu kaufen, dazu Amulette, Ringe, Bildchen, Trinkgläser, Tassen -  für jedes Portemonnaie das passende Mitbringsel

In einem Laden sehe ich, dass neben den Statuen der Mutter Gottes gleich  auch Leibchen von Messi und Co. zum Verkaufe aushängen, den verehrten Stars von heute. Man müsste von kirchlicher Seite eigentlich gegen diesen Götzendienst einschreiten. Doch ich habe das Gefühl, das Konzept des Götzen, des falschen Gottes also, ist längst veraltet. 
Wer nun der Stätte näher kommt, wo die Mutter Jesu am 13. Mai 1917 drei Hirtenkindern erschienen ist, sieht  zunächst einen riesigen Platz, auf dem gut und gerne eine halbe Million Gläubige  Platz haben. Der Blick richtet sich dann  nach links auf eine Anhöhe wo  eine schneeweisse Kirche mit kleinem Turm zu sehen ist
 Auf dem Platz führt auf der ganzen Länge von vielleicht 300 Metern ein Marmorweg Richtung Treppe zur Anhöhe, biegt dann jedoch nach etwa gut zwei Dritteln scharf nach links ab, wo eine Kapelle  neueren Datums an der Seite des Platzes  eingerichtet worden ist.
Sinn der fein geschliffenen Wegplatten ist es, den auf den Knieen rutschenden Gläubigen die Bewältigung der Strecke ein bisschen zu erleichtern. Fast alle haben Kniekissen umgebunden. Eine Frau hält beim Vorwärtsrtutschen so gut es geht noch einen Unterarm aus Plastik in die Höhe, deren Sinn ich zunächst nicht sehe.
Ein älterer Mann, offenbar schwer gehbehindert, ist nicht in der Lage, seinen Bittgang  auf den Knien zu absolvieren, er robbt unter grössten Anstrengungen mit seinen Armen dem Ziel entgegen. Wenn der Allmächtige nur eine Fürbitte erhören möchte an dem heutigen Tag, dann wäre es diese, denke ich. Und bin sofort erstaunt, wie schnell man daran geht, ins Räderwerk Gottes einzugreifen, wenn  einem die Stimmung gepackt hat.
Ich gehe nun zur Kirche hoch; im Innern auf den dunklen Holzbänken haben Hunderte von Gläubigen Platz genommen. Eine junge, ausserordentlich schöne Frau mit langem Haar und in Jeans in der hintersten Reihe fällt mir auf. Sie hält das Gesicht in ihren zum Gebet gefalteten Händen verborgen, was Ihrer Andacht eine Innigkeit gibt, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich frage mich, was ihr Anliegen ist: eine Beziehungssache? Der Dank für einen neuen Job? Oder ein krankes Familienmitglied?
Andere sitzen mit geschlossenen Augen da, aber viele haben einfach nur Platz genommen, um auszuruhen,  gucken dem unablässigen Menschenstrom zu und halten ihre Handys auf dem Schoss, ohne für einmal daran herumzufingern – wohl aus Respekt  vor dem geweihten Raum.
Später finde ich einen Laden, der punkto Angebot an religiösen Artikeln alle andern bei weitem übertrifft. Und da entdecke ich nun Unterarme gleich im Dutzend, dazu weitere Körperteile wie Füsse und Knie, aber auch innere Organe wie Herz und Mägen, aber keine Sexualorgane.
Die Verkäuferin erklärt mir, dass man die Plastikstücke kaufe, entsprechend den eigenen Leiden. Wer also ein Stress-Ulcer hat, kauft einen Plastikmagen und bringt diesen dann  als Fürbitte – auf den Knieen rutschend oder auch zu Fuss gehend – zu der Kapelle am Ende des Marmorwegs.
Interessant ist, dass der Laden mit einer Ueberwachungskamera ausgestattet ist. Und da muss ich nun eines sagen:  Ich bin ein toleranter Mensch. Von mir aus können Leute gerne mit Plastikmägen ihren Gebresten zu Leibe rücken.  Wir kennen ja alle den Placebo-Effekt. Was ich aber absolut nicht verstehen kann, ist, dass jemand im Ernst glauben kann, er würde mit  einem geklauten  Plastikmagen von seinem Magengeschwür befreit.
Nach dem Besuch in diesem Supermarkt  der religiösen Artikel ging ich zur Ausgabestelle für die Kerzen. Viele Gläubige kaufen dort gleich sechs oder neun, manche noch mehr  Kerzen. Doch ich fand, dass dies bedeuten müsste, dass  man einen klar definierten Kreis von Familienmitgliedern ziehen müsste, denen man gedenken wolle. Aehnlich wie man bei Google+ gezwungen wird, gewisse Familienmitglieder in den Kreis „Family“ einzuschliessen und andere daraus zu verbannen. Das schafft man im Fall Google+ zwar ohne weiteres, aber hier ist das etwas ganz anderes.
Ich kaufte deshalb eine einzige dunkelbraune Wachskerze  für alle Familienangehörigen, aber dafür eine riesige, 60cm lang mit einem Durchmesser von 2,5 cm, zum Preis von 2.70. Damit ging ich zu einer Art schwarzem Schrein neben der Kapelle und stellte mich in die Schlange. Beim Näherkommen sehen wir, dass ein Feuer in dem Schrein, eine Art Cheminée,  lodert. Und als ich an der Reihe bin, merke ich, dass man seine Kerze nun der Hitze aussetzen muss. Die meisten Kerzen hängen bereits – ein unschönes Bild – wie Würste herunter, andere sind in der Hitze der lodernden Flammen schon fast ganz geschmolzen. Das Feuer wird offensichtlich genährt durch flüssigen Wachs, der sich in einer Wanne am Fusse der Feuerstelle sammelt, wo schwarze Dochtresten wie tote Fliegen drin schwimmen.
Ich war bestürzt über diese Anlage, deren Sinn ich absolut nicht erkennen konnte: Ging es darum, angesichts des Andrangs immer wieder neuen Platz zu schaffen, der anderweitig  für neue Kerzen nicht zur Verfügung stand? Handelte es sich um ein Recycling Projekt für Wachs? Oder verband sich mit dem Feuer eine kirchliche Komponente, die sich mir als Ungläubigem nicht erschlossen hatte, die religiöse Vereinigung aller Anliegen in dem geschmolzenen Wachs, dessen Rauch gen Himmel steigt? Wie immer.
Ich verliess nach diesem niederschmetternden Erlebnis die Pilgerstätte und suchte eine Wirtschaft auf, wo Pilgerin und Pilgersmann sich bei Speis und Trank erfrischen konnten. Es gab zum Glück kein spezifisches Pilgeressen (Hirsebrei mit getrocknetem Fisch oder so ähnlich) und so bestellte ich einen gemischten Salat.
Später ging ich Richtung Busbahnhof. Und, da ich viel zu früh dran war für die Rückfahrt nach Lissabon, kehrte ich im Tea room ein, dessen Pasteis da Nata mich bereits am Morgen bei der Ankunft gluschtig gemacht hatten.
Doch kaum hatte ich mich gesetzt, packte mich eine  innere Unruhe. Ich ass das feine Blätterteiggebäck hastig, spülte sofort nach mit dem Kaffee und machte mich auf zum Bus-Bahnhof. Beim Näherkommen sah ich, dass gerade letzte Passagiere in einen Express-Bus einstiegen, der mit „Nr. 47“ und „Lisboa“ angeschrieben war. Ich klaubte mein Ticket hervor und sah mit Schreck, dass diese Nr.47  mein Bus war, der fahrplanmässig nicht um 15.30h, wie ich im Kopf hatte, sondern bereits um 15h fahren würde.

 Ich stieg als Letzter ein und erhielt meinen online reservierten Platz zugewiesen. Dann fuhr der Bus los und ich dachte, dass die innere Unruhe im Tea room wohl eine Fügung gewesen sein müsse und ein gläubiger Mensch  nun sagen würde, da sei Gottes Hand im Spiel gewesen.