Mittwoch, 27. November 2013

NZZ am Sonntag vom 2. März 2014: Leinen Los!

Ein Segelboot, ein Ozean und endlich viel Zeit. Ein Paar verwirklicht seinen Traum vom Frühruhestand unterwegs auf den Weltmeeren. Doch die Realität stellt sich als ziemlich anders heraus als gedacht. Von Thomas Rüst

Unser neues Leben begann an einem sonnigen Juli-Samstag  in Zürich mit einem vollbeladenen Kombi: Schlafsäcke, Bohrmaschine, ein Sextant, unseren tragbaren Generator, T-Shirts, die  Bernina-Nähmaschine und natürlich Regenjacken und Stiefel – alles war eingeladen. Doch noch immer gab es Sachen auf dem Trottoir, die mit mussten von Zürich zu unserem Boot in der Bretagne.

Letzter freier Stauraum war der Fussboden beim Beifahrersitz. Dies bedeutete, dass Agnes die erste Fahrt in die neue Freiheit mit angezogenen Knien antrat. Da wir uns abwechseln beim Lenken, war schon zwei Stunden später ich derjenige, der gleich unbequem, aber erwartungsvoll den Angaben des Navi folgte, das uns auf der Autobahn durchs Burgund Richtung Nantes lotste.

 In Port Lavigne an der Loire angekommen, räumten wir das Auto leer, das unser Sohn irgendwann in die Schweiz zurück fahren würde. Wir füllten 400 Liter Trinkwasser in die Tanks unseres Schiffs. Und wir händigten Monsieur Hérissé einen Check der französischen Postbank über 5333.80 Euro aus für Schweissarbeiten, einen Epoxy-Anstrich am Alu-Rumpf und andere Dinge, die man nicht sieht und die dennoch viel Geld kosten.

Am nächsten Morgen setzte uns Hérissé samt unserem Boot mit seinem Kran vom Trockenplatz  in den Fluss hinein. Wir waren um 4.30 Uhr aufgestanden, er kam kurz vor 6 Uhr, damit wir bei einsetzender Strömung ab 7 Uhr Richtung Mündung nach St-Nazaire starten konnten.

Sechs Stunden später spülte uns die  Loire in den Atlantik, wir setzten die Segel und nahmen Kurs auf Gijon an der Nordküste Spaniens. Der Wind aus Nordwest war gut und als der Autopilot richtig eingestellt war, sagten wir: „So haben wir uns das Rentnerleben vorgestellt.“

Wir  hatten uns seit langen Jahren gewünscht, irgendwann  zu zweit  neu zu beginnen. Der Plan zögerte sich  jedoch hinaus, weil die Kinder nicht so schnell auf eigenen Beinen standen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Und auch deshalb, weil es, je älter wir wurden, desto schwieriger erschien, Auszeiten von zwei oder mehr Jahren zu nehmen – und erst recht, den Job  einfach so vollends aufzugeben. Deshalb blieb uns am Ende nichts anderes übrig, als zu warten mit dem neuen Leben bis zur Frühpensionierung.

Wir kauften uns aber schon während der Wartezeit  unser Traumschiff, eine alte Alujacht vom Typ Ovni 35. Der frühere Besitzer, ein Schweizer Astronom, war in ein Alter gekommen,  da er nicht mehr segeln wollte und er machte uns einen guten Preis. Den Namen „Miranda“, einer der fünf grossen Monde des Uranus, behielten wir bei, nicht aus Aberglaube, sondern weil er uns gefiel.

Die Ferien nach dem Erwerb unseres Schiffes gingen von nun an drauf mit Bootsarbeit, jeweils 2 bis 3 Wochen pro Jahr, dann 2 bis 3 Wochen segeln, womit das Ferienbudget auch schon restlos aufgebraucht war. Diese Art Aktivurlaub erlebten wir als stressig, weil die Zeit immer knapp war, wenn man rechtzeitig wieder zu Sitzungsterminen  in Zürich erscheinen wollte.

Wenn Zeit keine Rolle mehr spielt
Jetzt aber, im Sommer 2010 auf dem Weg nach Spanien war der Terminkalender leer. Ich hatte Zeit im Überfluss. Zeit spielte keine Rolle mehr. Wo im alten Leben bereits die Stellwerkstörung der SBB eine kleine Katastrophe gewesen war, da kam es nun auf drei Wochen auf oder ab überhaupt nicht an.  Und so schickten wir uns an, das Leben zu geniessen: Wir verweilten in kleinen Hafenstädten Galiziens, umrundeten gemächlich das Cap Finisterre und segelten in Etappen der portugiesischen Küste entlang bis nach Lissbon. Wir verliebten uns total in Portugal und beschlossen, irgendwann  auf unserer Reise länger im Land zu verweilen.

Schnell spielte sich eine gewisse Routine des Bordlebens ein: An den  Etappenorten nahmen wir jeweils ein paar  freie Tage für Exkursionen und Besichtigungen. Dazwischen gab es „Arbeitstage“, an denen wir einkaufen, Wäsche waschen, Haare schneiden oder irgend etwas am Boot basteln mussten. Bei dieser Zweiteilung stellte ich jedoch fest, dass eine grosse Menge  von Tagen verblieb, an denen weder Ausflüge geplant  noch „Arbeiten“ zu erledigen waren -  und die ich nun irgendwie ausfüllen musste.  Das war -  zu meiner Überaschung - gar nicht so einfach. Ich entdeckte, dass ich mich langweilte. Manchmal sagte ich zu Agnes: „Ich habe heute überhaupt nichts gemacht. „ Dann meinte sie: „Aber Du hast doch den ganzen Nachmittag gelesen.“ „Ja klar,“ antwortete ich, „nur…“

Ich entschloss mich zur Selbsttherapie. Denn ganz offensichtlich war der Entzug von  5-Tage-Woche, Büro und – besonders schmerzlich – Büroklatsch in vollem Gange.  Ich lernte dann langsam,  Lesezeit zum Beispiel als eine ausfüllende Tätigkeit zu sehen, wo ich bisher nur am Wochenende gelesen hatte, zur Erholung sozusagen – was für eine Beleidigung für jedes Buch!

Auch mit der Menge der seglerischen Einzeletappen hatte ich Mühe. Es gab zu viele mit einer Tagesdistanz von jeweils rund 60  Meilen, sodass man früh aufstehen und bei Dunkelheit ablegen musste, um je nach Wind erst spät abends anzukommen. An diesen „Arbeitstagen“ nahmen wir vor dem Start  jeweils einen Kaffee  im hellen Licht unserer Kabine – fast wie  früher zu Hause in der Küche, bevor  ich in Zürich in aller Herrgottsfrühe den 70er Bus nehmen musste. 

Wer „segeln“ sagt, meint nicht immer segeln.
Wir  gingen später dazu über, die 10-Stunden-Arbeitstage den Küsten entlang wenn immer möglich durch 100-Meilen-Etappen zu ersetzen. Auf diese Weise kamen wir in 24 Stunden schön vorwärts und nach subjektivem Gefühl erst noch ohne grosse Mühe, weil uns in der Nacht mit dem Wechsel von Wache und Schlafen die Zeit viel schneller verging als tagsüber. Natürlich mussten wir oft motoren, wenn der Wind zusammenfiel oder gar nicht erst aufkam. Wenn Segler davon reden, sie seien irgendwo hin „gesegelt“, meinen sie meistens eine Mischung aus segeln und vorwärtskommen unter Maschine. Motoren wurde auch bei uns zum Dirty secret des Fahrtensegelns.

Vor dem Trip Richtung Lanzarote (Kanaren)  legten wir in Lissabon eine erste  Pause ein. Es war bereits Herbst geworden und ich flog in die Schweiz zurück. Ich hatte meinem Vater versprochen, ihn im Pflegeheim drei- bis viermal im Jahr zu besuchen. Einerseits weil ich dachte, er würde diese Visiten schätzen, anderseits aber vor allem, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, ihn im Stich gelassen haben. Mich plagte die Frage, ob ich auf das Abenteuer hätte verzichten müssen wie Freunde von uns, die wie wir viel Arbeit in ihr Boot gesteckt  hatten für die grosse Reise und dann eine betagte Mutter zu sich nahmen, sie jahrelang betreuten. Irgendwann verkauften sie das Boot, ohne dass ihr Traum in Erfüllung gegangen war.
Familien, Rentner und ein paar Exoten
Auf unserem Weg Richtung Kanaren trafen wir andere wie wir, die zwecks  Erfüllung ihres Traumes unterwegs waren. Da waren etwa skandinavische Familien, die mit ihren schulpflichtigen Kindern auf  hochwertigen  Booten lebten. Sie hatten ihre schwimmenden Wohnungen mit Waschmaschine und  Breitbandinternet ausgestattet , letzteres damit die Kinder via Satellit mitten auf dem Atlantik an einem Fernunterricht teilnehmen könnten. Unter den übrigen Nationen -  vor allem Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und der Schweiz  - dominierten Rentner wie wir. In diesen Ländern gibt es im Gegensatz zu Skandinavien keine grosszügigen Sabbaticals für alle, dafür haben Leute im Alter oft genügend Mittel, um ihre Abenteuerlust zu verwirklichen. Dann gab es noch ein paar Exoten, junge Franzosen oder Polen, die wegen Geldmangel an Etappenorten arbeiten wollten und die mit Schiffen unterwegs waren, die wenig Komfort  boten, aber viel seglerisches Wissen verrieten.

 Die Atmosphäre in den Häfen und Marinas entlang der Route Richtung Karibik ist inspirierend und optimistisch – alle sind erwartungsvoll, trinken Wein und fürchten sich vielleicht auch ein bisschen vor jener Atlantiküberquerung, von der sie hundertmal geredet hatten und die nun mit einem Mal in Griffweite lag.

Wir selbst legten nach dem 20. November von Lanzarote  (Kanaren) ab und erreichten die für den Passatwind  typischen kleinen weissen Wolken am blauen Himmel  auf dem 13. Breitengrad südlich der Kapverden.  Wir baumten die Genoa aus und segelten zusammen mit dem gefierten Grossegel auf der andern Schiffsseite wie mit Schmetterlingsflügeln. Wenn der Wind, typischerweise  von hinten, nachliess, setzten wir unser farbiges Passatsegel.

Weil der Autopilot zuverlässig und ausdauernd steuerte, vertrieben wir uns die Zeit mit fischen, plaudern und jenem Nichtstun, an das ich mich inzwischen völlig gewöhnt hatte. Nun waren wir zu dritt an Bord. Unser französischer Cousin Jean-Pierre erwies sich als leidenschaftlicher und erfolgreicher Fischer. Wir hatten  immer genug Tunfisch und Goldmakrele, soviel, dass ich eines Tages fand, nun sei für den Moment genug gefischt, denn ich hätte wieder mal Lust auf  einen Teller Spaghetti. Es war das einzige laute Wort auf dem ganzen glorreichen Trip.
 Das beste: Weit weg vom Land geht  der innere Lebensrhythmus  zurück  Weil es nur Wasser rundherum und ein paar Passatwolken gibt, also keine Fussballübertragungen und kein Smartphone, kein Youtube und keine Beizen, keine Chefs und keine Kantine, versinkt man in einer angenehmen Dauerträgheit mit tiefem Puls und einem zufriedenen Hang zu ununterbrochener Untätigkeit.  Da ist es schon eine Sensation, wenn Delphine sich mit ihren schnellen Sprüngen um das Schiff herum  austoben oder eine Meeresschildkröte einsam vorbeipaddelt.

Man fragt sich dann, warum die Schöpfung diesen Wesen solche Reisen zumutet. Zuhause könnte man das auf Wikipedia schnell nachsehen und die Phantasie eines angeregten Gesprächs käme per Wlan und Tablet schlagartig zum Erliegen. Mitten auf dem Atlantik hingegen haben wir endlos an unseren Gesprächsfäden gesponnen. Immerhin: Auch wir hatten  auf unserem Laptop Wetterdaten und Mails über eine  Datenverbindung via Satellitentelefon. So bekamen wir Sportresultate und Abstimmungssonntage mit, auch Trennungen und Schulprobleme – und den ersten Schnee an einem Adventswochenende in der Schweiz.

Was macht ihr, wenn einer an Bord Blinddarmentzündung bekommt, waren wir vor der Abreise gefragt worden. Geben wir’s zu: eine Atlantiküberquerung gehört zu den selten gewordenen Abenteuersportarten, bei denen man im Notfall keine schnelle Hilfe bekommen kann. Sich von einem Frachter abbergen lassen, ist je nach zufällig eintreffendem Retter hochriskant. Aus diesem Grund  setzten wir für den medizinischen Notfall auf eine gut assortierte Bordapotheke und auf unser Satellitentelefon, mit dem wir wenigstens ärztlichen Rat hätten einholen könnten. Im übrigen waren wir unbesorgt. Meine Gegenfrage  lautete immer: Wie oft bist  du in deinem bisherigen Leben in der Adventszeit  ins Spital eingeliefert worden?  Na also.
Angst zu haben ist gut
Die zweithäufigste Frage war, ob wir keine Angst hätten. Doch, lautet unsere Antwort. Denn Angst zu haben, ist gut weil Angst die Sinne schärft. Anderseits: Wir segelten in all den Jahren  ausschliesslich Routen, die seit Jahrhunderten als sicher bekannt sind. In den paar Fällen, wo uns Tiefdruckgebiete mit ihren Fronten näher kamen, als uns lieb war, behalfen wir uns mit bewährten Mitteln, dem Reffen natürlich, also dem Verkleinern der Segelfläche, und  dem Beidrehen des Bootes, einem klassischen Manöver, bei dem man das Boot im Wind driften lässt.

Am 19. Dezember kamen wir auf Barbados an, etwas mehr als fünf Monate nachdem wir in Zürich unser Auto vollgeladen hatten. In einer traumhaften Bucht machten wir das Gummiboot flott, tuckerten zur Strandbar und schnappten uns  das erste kühle Bier seit drei Wochen. Die Wassertemperatur betrug 29 Grad und nur die digitale Temperaturanzeige am Gefrierschrank der Bar erinnerte an den Winter von Zürich: - 2 Grad. Am 24. Dezember dann am späten Nachmittag standen wir eine Stunde lang  im Supermarkt in der Schlange an der Kasse, weil ganz Bridgetown sich noch  Rum fürs Fest  holte. Es folgten paradiesische Monate in kleinen Häfen und vor Inseln, auf denen manchmal nur ein paar Palmen standen. Wir lebten in den Tag hinein.
Beziehungskiste auf engstem Raum
Am Ende des Winters dann war wieder Arbeit angesagt. Das Boot hatte seit der letzten Überholung  gut 7000 Meilen unter dem Kiel, als wir, von den amerikanischen Jungferninseln kommend, in Beaufort (North Carolina) an der US-Ostküste eintrafen. In der Chesapeake Bay etwas weiter nördlich, in der Nähe von Washington DC, arbeiteten wir dann wochenlang am Boot, jeweils von 9 bis 17 Uhr mit freiem Wochenende, an dem wir uns – ganz genau wie früher - von der Arbeit mit Lesen oder Kino erholten oder bei Freunden eingeladen waren. Wir hatten sozusagen das alte Leben zurück. Dann kam ein Winter in Florida, bevor wir via Bermuda Richtung Azoren wieder nach Europa  starteten.
  Ein Freund, der mitkommen wollte, hatte für den Trip kurzfristig abgesagt. Doch Agnes und ich merkten nach der Absage schnell, dass wir uns auf die Reise allein zu zweit freuten. Wir wurden oft gefragt, ob die Enge des Bootes für unsere Beziehung nicht belastend sei. Immerhin leben wir auf einer Wohnfläche, die netto der Grösse eines Kinderzimmers von Schweizer Normalwohnungen entspricht. Die Antwort ist immer die gleiche: Nein. Denn wenn man nicht miteinander auskommt,  würde es wohl auch in einer grossen Fünfzimmerwohnung ziemlich schnell ziemlich eng.

 Da wir bei Schiffsführung, Navigation und Wetterbeurteilung gleich ticken, geraten wir beim Segeln auch nicht aneinander. Dennoch gibt es die klassische Arbeitsteilung: Ich kenne keine Frau, die an Bord eines gemeinsamen Schiffes für den Motor zuständig ist, ergo bin ich der Mechaniker auf unserem Boot.  Kochen im Hafen und bei hohem Seegang  ist hingegen Frauensache, seit Agnes auf einer ersten Atlantiküberquerung im Jahr 1999 die ganze Crew  zwischen Montauk (New York) und Plymouth (England) vier Wochen lang bekocht  hatte.

  Unser Trip Richtung Azoren wurde ein voller Erfolg: Wir hatten sehr viel und sehr guten Wind, so dass wir schnell vorwärts kamen. Manchmal sassen wir nachts nach einer Wache noch zusammen im Cockpit, guckten zu den Sternen oder  fragten uns in einer wolkenverhangenen  Dunkelheit, warum wir seit Tagen keine  Frachter mehr gesichtet hatten. Antwort: „Es gibt weltweit keinen einzigen mehr, darum!“

Nach 21 Tagen unterwegs erreichten wir die Azoreninsel Flores. Den Frühsommer verbrachten wir auf den verschiedenen Inseln des Archipels, bevor wir uns unser eigenen  Versprechen erfüllten, Richtung portugiesisches Festland  segelten und dann den Tejo hinauf nach Lissabon. Wir machten das Boot in der Marina Parque des Nações  fest und blickten  bereits ein erstes Mal zurück auf unser neues Leben. Und wir stellten fest, dass es davon nicht nur eines gibt. Denn die viele freie Zeit ist für uns mittlerweile zu einer dauernden Einladung geworden, etwas Neues zu unternehmen.  In dem Lissabonner Sommer zum Beispiel begann ich, einen Roman zu schreiben. Thema war, wen wundert’s, das andere Leben: Einer stellt das bisherige auf den Kopf, steigt aus und wird ein anderer. Der Winter nach dem Lissabonner Sommer  verfloss ebenso wenig nautisch, nämlich mit einem Marathontraining, nur weil ich mir in den Kopf gesetzt hatte, einmal im Leben durch Barcelona zu laufen.

In gut drei Jahren hatten wir 12 000 Seemeilen zurückgelegt. Dies erscheint auf den ersten Blick viel. Doch gemessen an den Tagen auf See sind es erstaunlich wenig: Wer 12 000 Meilen durch die Tagesleistung unseres Bootes (100 bis 120 Seemeilen in 24 Stunden) teilt, kommt nur auf knapp 120 Tage oder vier Monate verbrachter Lebenszeit auf Hoher See.  Der Rest sind Häfen, Marinas, Ankerbuchten, Landausflüge. Anders gesagt: Die meiste Zeit haben wir während unseres Segelabenteuers nicht mit Segeln verbracht, sondern waren sesshaft in unserem schwimmenden Haus.


Frage zum Schluss: Gibt es etwas, das wir anders machen würden? Ja. Ideal wäre,  früher im Leben die Leinen loszuwerfen  und dann durch den Panama-Kanal Richtung Pazifik zu segeln. Das war uns  zu weit, wohl deshalb, weil wir seit  der Wegfahrt an jenem Juli-Tag in Zürich bereits etwas älter geworden sind und etwas weniger abenteuerlustig. Und so verbringen wir jetzt einen Winter an Bord von Miranda II in Sizilien. Da kann es ganz schön kalt sein, haben wir gemerkt. Und finden, dass sei eine gute Angewöhnung für die Zeit, wenn wir wieder in der Schweiz sesshaft werden.


Montag, 18. November 2013

Scirocco und Patisserie

Nach dem Mistral auf Sardinien lernen wir in Sizilien nun den Scirocco kennen, ein stürmischer Wüstenwind, der dafür sorgt, dass es in Marsala angenehm warm ist.

Wir liegen hier gut geschützt an einer Hafenmole. Der Hafenmeister hat einen Windsack aufgestellt, wie man ihn von kleinen Flugplätzen kennt, damit auch wirklich niemandem Stärke und Richtung des Scirocco entgehen.

Weil bei der Mistralattacke auf Sardinien beinahe die Festmacherleinen der Miranda II durchgescheuert worden waren, haben wir sie nun mit kleinen, dicken Plastikrohren geschützt. Auch eine Sicherheitsleine ist angebracht worden für den Fall, dass…

Ansonsten ist das Leben angenehm. Am Sonntagmittag haben wir auffallend viele Leute im nahegelegenen Stadtquartier  gesehen, die mit Patisserie unterwegs waren, dem Mitbringsel wohl zum Besuch bei Familie oder Freunden. Und so sind wir auch in einen Laden gegangen und haben Stückli gekauft. Ich trug das kunstvoll geschnürte Paket mit dem Papier der Patisserie wie die andern Passanten auf den Fingern der linken Hand aufgestützt  vor mir her. Und mir kam  in den Sinn, dass ich zum letztenmal  als Kind an einem Sonntag in einer Patisserie war – mit meinem Vater in St. Gallen bei „Beglinger“. Mit der Schachtel  sind wir dann jeweils noch zum Bahnhofkiosk gegangen, weil mein Vater dort die beiden einzigen Sonntagszeitungen kaufte, die es damals gab: die „Tribune de Lausanne“ und die „La Suisse“.  Dann fuhren wir mit dem Bus nach Hause. Beim Dessert dann durften wir reihum wählen. Mein Vater beteiligte sich nicht, sondern schaute nur interessiert zu.  Er sagte immer, er nehme am liebsten jene Patisserie, die am Ende noch übrigblieben.  Denn das seien die besten.




Montag, 11. November 2013

Cagliari - heute und damals

Es stürmt weiter – oder schon wieder. Und wir haben eine unruhige Nacht hinter uns: Der Wind drückte das Heck des Bootes gegen den Ponton, sodass wir am Bug vorne die Muringleine anziehen mussten. Doch wie macht man das, wenn mehrere Tonnen Winddruck auf der Leine sind?

Unsere Methode: Wir warfen die Maschine an und legten den Vorwärtsgang ein. Das Boot zog nun an den Heckleinen zum Ponton, der Abstand war fürs erste wieder hergestellt. Dann knoteten wir eine Leine mit kleinerem Durchmesser an die dicke Muring-Leine. Der geniale Knoten dafür heisst Webleinenstek. In einem weiteren Schritt führten wir  das dünne Seil zur Wintsch und drehten die Kurbel.

Dann wurde die nun lose gewordene Muringleine zwischen Knoten und Klampe nachgezogen. Das ganze wurde ein paar mal wiederholt, bis der Abstand zum Ponton wieder  so gross war, dass wir den Motor abstellen und uns schlafen legen konnten.

Dieses nächtliche Hafenmanöver geschah in Calgari, wo ich auf den Tag genau vor 24 Jahren schon einmal  war, im November 1989. Wir kamen mit der Jacht „Tamango“ meines Kollegen tj aus Malta und hatten bei einem Zwischenstopp auf den Aeolischen Inseln aus einem Zeitungsaushang  erfahren, dass in Berlin die Mauer geöffnet worden sei. Eine Sensation, die ich auf Anhieb nicht glauben konnte. Wir schalteten Deutsche Welle ein und erfuhren, dass nun tatsächlich zusammenwachsen solle, was zusammengehöre. In Cagliari angekommen suchte ich ein Reisebüro auf, um sofort nach Berlin zu fliegen. Doch es gab längst keine Tickets mehr und so reiste ich nach Zürich zurück. 


Die Geschichte dieses ersten Aufenthalts auf Sardinien kommt mir vor wie aus einem andern Leben oder aus dem Leben eines anderen, auch deshalb, weil wir uns damals so umständlich informieren mussten: Keine Smartphones und kein Internet. Und für Flugtickets musste man noch ins Reisebüro. Dafür gab es keinen Sturm im Hafen – und wir schliefen als sei nichts passiert.