Samstag, 21. April 2012

Lippen, mal so - mal so

Es kommt vor, dass man zweimal in kurzem Zeitabstand aneinander vorbei geht. Das erstemal sage ich „Good morning“ und der andere sagt „Howyadoing“ oder etwas ähnliches, was sich wie ein Verschlucker anhört. Bei der zweiten Begegnung auf dem Steg in der Marina kurz nach der ersten hingegen ist der Morgengruss nicht mehr angebracht. Und Mr Howyadoing kann sein Howyadoing auch nicht mehr anbringen.
Was tun? Im amerikanischen Alltag gibt es dafür eine praktische Lösung: die zusammen gekniffenen Lippen. Sie sind das kleinste mögliche Anzeichen einer Freundlichkeit. Auch anzutreffen beim fremden Flugpassagier, der sich über mir in der Gepäckablage zu schaffen macht und mir – während er in seinem Rucksack kramt – sein Gesicht mit den Lippen zeigt.
Doch diese kleinste mögliche freundliche Beachtung ist nicht die einzige Funktion der zusammengekniffenen Lippen. Wir sehen die Strichlippen auch oft auf Bildern von Politikern (seltener bei Politikerinnen). Hier drückt der Lippendruck nicht eine alltagstaugliche Mindestfreundlichkeit aus, sondern etwas total anderes: Anspannung im öffentlichen Kontext, oft vor wichtigen (unerfreulichen) Medienauftritten.
Die zusammen gekniffenen Lippen sind auf Politikerbildern und im Fernsehen so häufig zu sehen (siehe Bild mit dem Kandidaten Romney), dass sie kaum je beschrieben werden. Hier ist eine Fundstelle, die ich meiner Expertin für amerikanische Alltagskultur verdanke („Hallo, Camille, thanks a lot!“): http://center-for-nonverbal-studies.org/tensemou.htm

In Europa ist das Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen als öffentlicher mimischer Ausdruck praktisch unbekannt geblieben. Zusammengekniffene Lippen gibt es gelegentlich im kleinen Kreis, an einer Sitzung zum Beispiel, wenn es darum geht, vieldeutig ein meist leicht ärgerliches Erstaunen auszudrücken, das man (noch) nicht in Worte fassen möchte.

Auch als kleinste Freundlichkeit gibt es das Lippenpressen in Europa nicht ; man würde sich hüten, an einem Morgen beim zweiten Zusammentreffen die Lippen zusammen zu kneifen, eher geht man wortlos aneinander vorbei – oder sagt irgendwas Bedeutungsvolles („Auch früh unterwegs?“ ).
Da ich im Alltag nichts besseres zu tun habe, übe ich dieses Zusammenkneifen (siehe Bild mit Übung im Gange), habe mich aber bisher nicht getraut, es live zur Schau zu stellen. Ich fürchte, dass meine Mindestfreundlichkeit total misslingt – und der andere dann wirklich vom Howyadoing übergeht zum besorgten: „Are YOU all-RIIIIGHT?“ Das wäre dann eine ganz andere Geschichte.

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