Sonntag, 5. September 2010

Das Ungeheuer

Gestern hatten wir es mit einem Seeungeheuer zu tun. Laut Karte sollte es sich sechs Meilen nördlich von Povoa de Varzim aufhalten. Natürlich handelte es sich in Wirklichkeit um ein Industrieprodukt, niemand glaubt mehr an Fabelwesen. Gebaut worden war das Ungeheuer von der Firma „Pelawis Wave Power“, finanziert hatte dieses erste Wellenkraftwerk vor der portugiesischen Küste ein britisches Unternehmen, Babcock & Brown, zusammen mit portugiesischen Investoren. Das Ding sollte als eine Art bewegliche Schlange umweltfreundliche Wellenenergie produzieren, die auch die „Windenergie des Meeres“ genannt wird.

Das Wesen würde sich, so las ich im „Reeds“, einem unserer Handbücher, knapp unter bzw. an der Wasseroberfläche befinden; weithin sichtbare Seezeichen seien verankert worden, um auf das Ungeheuer aufmerksam machen. Wir segelten kurz vor der eingezeichneten Stelle hinter einer Yacht her, die etwa gleich schnell war wie unser Boot. Irgendwann bemerkten wir, dass deren (und damit auch unser) Kurs infolge Strömung dazu führen würde, dass wir dem Ungeheuter zum Frass vorgeworfen würden. Wir änderten unseren Kurs und segelten auf der westlichen Seite sicher an den gelbschwarzen Seezeichen vorbei, den Wächtern der Seeschlange, welche selbst nirgendwo zu entdecken war. Auch das andere Boot hatte den Kurs geändert und war südöstlich gesegelt. Wo aber war das Ungeheuer, die mehrgliedrige etwas übergewichtige rote Schlange mit dem schmalen Kopf?

In Povoda de Varzim ging ich aufs Internet und schaute bei Wikipedia unter Wellenkraftwerk nach. Dort las ich zu meiner grossen Ueberraschung, dass das Ungeheuer sich gar nicht mehr an der gefürchteten Stelle im Meer befand, sondern selbst einem andern Ungeheuer zum Opfer gefallen war, das den Namen „Finanzkrise“ trägt. Kaum war das Wellenkraftwerk nämlich im Juli 2008 eingeweiht worden, musste es zurück in den Hafen von Leixeos (Bild) geschleppt werden. Die entstandenen Probleme mit Auftriebskörpern konnten rasch gelöst werden, doch im September, als ein neuer Versuch gewagt werden sollte, geriet die Finanzierung ins Stocken: „Babcock & Brown“ befand sich mittlerweile in der Kreditklemme und bekam, wie viele andere Unternehmen auch in jenem crashenden Herbst, kein Geld mehr, Geld, das nötig gewesen wäre, um das Ungeheuer wieder in den Atlantik hinaus zu bugsieren. Dann versiegten die gesamten Geldströme für das Projekt, Assets wurden verkauft und die portugiesischen Joint-venture-Partner stiegen aus.
Heute, drei Jahre nach der Finanzkrise, ist das Wellenkraftwerk von Leixeos nur noch ein stummer Zeuge dafür, dass nicht einmal Seeungeheuer mehr sicher sind vor den modernen Herrschern der Welt und ihren Investmentbanken.

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