Freitag, 15. Juni 2012

Midnight in Flores


Eine Kurzgeschichte zur Ankunft auf der Azoren-Insel


Vorbemerkung: Handlungen und Personen in der untenstehenden Geschichte sind frei erfunden. Nichts ist so geschehen oder wurde so erlebt.  A work of fiction - leider...

Wir segelten  auf einem nordöstlichen Kurs knapp 20 Meilen vor der Insel  Flores. Die Abendsonne stand noch hoch am Himmel. Ich rechnete damit, dass wir nach Sonnenuntergang bald das Feuer des Leuchtturms von Lajes sehen würden und wollte nun noch einmal die Position checken. Doch das GPS-Gerät sagte mir „No satellites available“. Diese Anzeige hatte ich noch nie bekommen; ich machte ein Reset des Geräts  – mit dem gleichen Ergebnis: keine Satelliten am Himmel.

So kurios der Ausfall des GPS, so machte ich mir dennoch keine Sorgen: der Leuchtturm würde mir den Weg weisen. Und so war es: Kurz vor Mitternacht legte ich im Hafen von Lajes an, gleich neben zwei wunderschönen klassischen Jachten, wohl hundertjährige Boote, aber in bestem Zustand.

Es herrschte erstaunlicherweise Hochbetrieb in dem kleinen Frachthafen. Im hellen Licht von Fackeln  wurde ein, wie es schien, ziemlich betagter Frachter beladen. Als ich auf der Hafenmole entlang ging, um mir etwas die Beine zu vertreten, kam mir ein zweispänniges Fuhrwerk entgegen, dessen Fuhrmann schliesslich seine beiden Pferde mit einem lauten „Heyiii“ neben dem kleinen Frachter zum Stoppen brachte. Zwei herumstehende  Männer machten sich ohne Verzug  daran, eine riesige Kiste und ein Fass auf das Schiff zu verladen.

Ganz schön in alten Zeiten, die Insel, dachte ich und trat zu einem der Männer hin.

- „Noch nicht Feierabend?“ sagte ich.
- „Nein, das Schiff ist verspätet und sollte so rasch als möglich hier ablegen. Nach Antwerpen…“ , fügte er bei.
-„Nach Belgien?“
- „Ja, wir schicken Wein und Käse zur Weltausstellung von Gent. Unser Beitrag. Wir hoffen wieder  auf eine Medaille.“

Ich hatte gedacht, Weltausstellungen seien längst passé.

- „Gibt’s wieder Weltausstellungen?“, fragte ich den Mann.
-  „Was heisst „Wieder“, die letzte war erst vor zwei  Jahren und  dann auch  1910 in Brüssel. Wir waren immer dabei  als kleine Insel  - und hatten gute Klassierungen.“

Komischer Vogel mit seinen Zeitangaben, dachte ich und sagte:
- „Gibt’s hier irgendwo  ein Cafe, das noch offen ist. Ihre Männer müssen ja auch noch was essen nach der Arbeit.“
- „Gehen Sie die Strasse hoch;  gleich neben der Post.“

Ich eilte die dunkle Strasse hoch, sah bald einmal  zwei erleuchtete Fenster und trat in die Gaststube ein,  ging direkt an die Bar und fragte, ob  es Wlan gebe für mein Smartphone oder ich sonst  irgendwie ein Mail oder eine SMS  verschicken könne. Die Wirtin sagte , sie wisse nicht richtig, was ich meine, doch falls ich  etwas versenden wolle, dann gebe es seit einiger Zeit einen Telegraphen gleich vis-à-vis auf der Post.

Ich musste lachen, entschloss mich aber gutgelaunt, auf den Vorschlag einzugehen

- „Kann man um diese Zeit denn  noch ein Telegramm aufgeben bei Ihnen?“

- „Ja“, sagte die Frau, „ mein Mann betreibt das Postamt; er sitzt dort drüben“, sie  zeigte auf eine Gruppe von Kartenspielern.

Enrico, so hiess der Telegraphist, war gerne bereit, das Postbüro  zu der späten Stunde  zu öffnen. Er hiess mich, in den Schalterraum einzutreten, und machte sich hinter dem Tresen mit einem Formular zu schaffen.

- „An wen soll das Telegramm gehen?“
-„An meine Schwägerin in Luzern“, sagte ich und gab ihm die Adresse. Und dann sprach ich, nachdem die Angaben notiert waren,  auf Geheiss des Telegraphisten langsam den Text, der zu telegraphieren wäre: „Gut angekommen  stop.  Melde mich wenn ausgeruht stop  Thomas.“
Der Kartenspieler/Telegraphist notierte sich die Wörter in der für ihn fremden Sprache und setzte sich schliesslich  mit dem Formular an sein Gerät, morste Buchstabe um Buchstabe mit einem  lauten Klicken, das als klickediklick  in einem Kabel tief im Ozean in die Welt hinaus gehen sollte.  Als der Text behende gesendet war, sagte er: „Sie kommen aus Amerika, nichtwahr.  Was sagt man denn dort: Wird es Krieg geben?“ 

-„Zu den Kriegen in Afghanistan und Irak ein dritter Krieg?“, frage ich zurück.

 Er guckte mich an und meinte:

- „ Afghanistan…Amerika soll sich zur Neutralität verpflichten, hat Wilson gesagt….“

  Nun dämmerte mir  langsam, dass ich in einer Art Geschichtsinszenierung gelandet sein musste: Die klassischen Jachten im Hafen, das Fuhrwerk, die Weltausstellung,  der Telegraph -  und ein Präsidentschaftskandidat namens Woodrow Wilson, der 1913  zum US-Präsidentenm gewählt würde.

- „Sagen Sie mal, findet hier eine Retro-Show statt? Und ich soll nun sagen: ,Holt mich hier raus!‘“
-„Wie meinen Sie?“
- „Eine TV-Show zum ersten Weltkrieg?“
-„Sie denken, dass es Krieg geben wird.“
-„Ja er wird vier Jahre dauern“, sagte ich. Ich hatte beschlossen mitzuspielen in der historischen Kulisse. „Und 1939 wird ein zweiter Weltkrieg beginnen…“
Der Telegraphist war für einen Moment sprachlos: „Wie können Sie es wagen…“, er wandte sich zornig ab. „Sie sind ein Pessimist, und Sie sind ein Unglücksbringer. Gehen Sie! “ Er war ausser sich.

Ich ging zurück zu meinem Boot, versuchte erneut, mit dem Handy eine SMS an meine Schwägerin zu senden, doch: es gab keinen Verbindungsaufbau,.  Jetzt musste ich auf einmal wie wahnsinnig  lachen: Klar, ist ja 1912, da gibt’s nur das Kurbeltelephon und das Telegramm. Ich lachte, verschluckte mich, musste husten,  und lachte wieder -  dann legte ich mich  in meine Koje.  Ein grosser Druck war dank dem Lachanfall von mir abgefallen.
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Am Morgen riss mich das Klingeln meines Handys aus dem Schlaf.  Auf dem Display sehe ich den Namen meiner Schwägerin, einer mitten im Leben stehenden  Frau.
-„Was machst du für Sachen“, sagte sie.  „Gerade hat mich der Leiter des Verkehrshauses  in Luzern angerufen. Die haben ein Telegramm erhalten von Dir…“
-„Wie das“, sagte ich vorsichtig, nicht wissend, was sie  vom gestrigen Abend wüsste, der mir in meinem vagen Wachzustand nun langsam wieder bewusst wurde.
- „Die haben für Schulklassen und so einen alten Apparat und der ist an eine Uebertragungsleitung angeschlossen, die noch von der PTT stammt, hat mir der Mann vom Verkehrshaus gesagt. Und da ist also ein Telegramm von Dir für mich eingegangen in der Nacht.“
 Ich sagte nichts. Und da setzte meine Schwägerin nach: „Sag mal, warum schickst Du keine SMS oder ein Mail…warum ein Telegramm?“
 Ich beschloss, in die Offensive zu gehen: „Ich hatte keine Verbindung auf dem Handy gestern und da war ein Telegraphist in einer Kneipe und bot an, den Text zu telegraphieren – wie früher.“
Meine Schwägerin lachte herzlich: „Ganz genau ,wie früher'.“, sagte sie, die Ironie in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Und weisst Du was: Das Telegramm trug das Datum vom 15. Juni 1912.“
„ Ach“, sagte ich und meine Stimme klang etwas unsicher ,“ da muss jemand aber etwas total falsch mitbekommen haben.“
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Nach dem Gespräch  beschloss ich, der Sache resolut auf den Grund zu gehen, verliess das Boot und ging erneut der Hafenmole entlang, wo gerade die Autofähre aus Horta  am Quai  andockte. Ich fand die Bar und gegenüber das Postamt. Hinter dem Schalter sortierte ein junger Mann Briefe.
- „Guten Tag, entschuldigen Sie, aber gab‘s hier mal einen Telegraphen?“
- „Ja“, sagte der Mann, „mein Grossvater war  Telegraphist. Und mein Vater hat 1992 das letzte Telegramm  verschickt.“  Er trat an ein Pult, wo an der Wand zwei Bilder hingen.
- „Hier ein Foto meines Vaters“, sagte der Beamte.  Wie sich Vater und Sohn ähnlich sehen, dachte ich, als ich die Bilder des jungen und des älteren Pöstlers betrachtete.  Und dann nahm mein Gegenüber  das  zweite Bild von der Wand: „Und das ist mein Grossvater.“
Von dem Schwarzweissfoto blickten mich die dunklen Augen des Mann an, der gestern mein Telegramm aufgesetzt und nach Luzern gesendet hatte.. Er trug auf dem Foto die gleiche Nickelbrille wie gestern, und auch  die  grauen  Haare waren streng nach hinten gekämmt .  Das Photo zeigte meinen Telegraphisten allerdings um ein paar Jahre jünger als ich ihn kennen gelernt  hatte.
- „Ist Ihnen nicht gut“, frage der Pöstler plötzlich.
-„Neinein, alles ok.
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Ich ging zum Segelboot zurück, und  tippte die Wörter Weltausstellung und Gent in das Google-Suchfeld.  Dann schaltete ich das GPS-Gerät  ein und erhielt nach wenigen Sekunden die Position von Flores.

Ich machte Kaffee und beschloss, die Geschichte aufzuschreiben, so wie ich sie erlebt hatte – ohne etwas hinzuzufügen oder etwas  wegzulassen.

 Ich weiss auch jetzt nicht, da ich diesen Text  wieder lese, ob das, was mir passiert ist, ein übler Trick war, eine aufwändige Inszenierung eines internationalen TV-Unterhaltungskonzerns, oder  nur eine Täuschung meiner Sinne - als  Folge von  Müdigkeit nach einer  langen Seereise .


Vielleicht aber, und das kann nicht ausgeschlossen werden, habe ich nach der Ankunft in Flores  und nach 1656  Meilen auf dem offenen Meer wirklich eine Zeitreise gemacht.
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 Siehe auch: Woody Allen: “Midnight in Paris“.

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