Montag, 7. Mai 2012

Die Sonntagsausgabe - das Lesevergnügen

Jeden Sonntag in den letzten 12 Monaten habe ich eine Zeitung in der Hand gehalten, die mir ein ausserordentliches Lesevergnügen bereitet hat: The New York Times. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich mich in eine ganz bestimmte Stimmung versetzen muss, um die Inhalte wirklich zu geniessen – wenn geniessen angesichts des Zustands der Welt und der in der New York Times reflektierten Informationen und Gedanken das richtige Wort ist.

 Dennoch: Die richtige Stimmung meint, dass ich zuerst die jeweiligen Bünde – Bücher, wie die Deutschen sagen – sortiert habe: Der Sport wurde ungelesen weggelegt; mit amerikanischem Sport, den Franchises, kann ich nichts anfangen. Weggelegt habe ich auch die Arts Sektion, wobei ich anerkenne, dass zwischen klassischer und populärer Kultur kein Unterschied gemacht wird, eine künstliche Trennung, mit der Schweizer Zeitungen nie zurecht kommen werden.

 Meist habe ich mit dem Reisen-Bund begonnen und dort mit neusten Berichten und Recherchen über das Fliegen und wie man der Feindschaft von Airport-Personal, Fluggesellschaften und Security ein Schnippchen schlagen, sie im besten Fall zu Freunden machen kann.Dann nahm ich jeweils die Business Sektion an die Hand, wo ich das  Interview zum Thema  Führungserfahrungen als erstes gelesen habe, gefolgt von der  aktuellen und intelligenten Kolumne von Gretchen  Morgensohn, einer Frau, von der ich gerne wissen möchte, wie sie zu ihrem Vornamen gekommen ist.

 Im Style-Bund, einem Produkt, das Schweizer Zeitungen erfolglos zu kopieren suchten, erfolglos deshalb, weil die Redaktionen nie erkannten, dass Style eine hoch ernste Angelegenheit ist und sich mit Lustig-Trendig überhaupt nicht verträgt…im Style-Bund also las ich mit Genuss und manchmal mit Trauer „Modern Love“, wunderschöne, erschütternde Geschichten von immer andern Autorinnen – meistens  in der Tat Frauen, Männer tun sich mit Modern Love offenbar schwer  – die ihre Liebe schildern, crazy stupid love oft, muss ich in Anlehnung an einen Filmtitel konstatieren. Und spannend, aber nie anzüglich, höchstens verwirrend.

 Als vorletzten Bund nahm ich jeweils den ersten Bund in Arbeit, wo die  Nachrichten und Primeurs des Tages präsentiert werden. Meist garniert mit einer exzellenten Recherche, etwa über Arbeitsbedingungen bei Apple in China.  Der New York Times verdanke ich die Erkenntnis, dass chinesische ArbeiterInnen von Apple nachts um 3 Uhr in ihren Schlafsäälen geweckt werden können, um dann in einer 7-Tage-Schicht 12 Stunden  das  iPhone4 zu montieren, nur weil das kratzfeste Glas (beinahe) zu spät für die Lancierung des Telephons angeliefert worden war.

 Dann folgte Week in Review, das Produkt eines ausserordentlich kreativen, "läbigen"  Ressorts, wie ich annehme, welches  in der neusten Aushabe die Wantologists präsentiert, eine neue Spezies von Psychotherapeuten, die uns sagen, was wir erreichen möchten. Und natürlich Maureen Dowd, meine Lieblings-Kolumnistin, gerade  zu Besuch bei Marine LePen – Berühungsängste gibt es bei der New York Times keine. 

Zum Schluss kommt das Dessert: die Book-Review, in der neusten Ausgabe mit einer höchst instruktiven Besprechnung der Lyndon-B-Johnson-Biographie durch Bill Clinton

Und nun fehlt mir der Atem. Dennoch muss erwähnt werden: Jetzt, am Ende, folgt das New York Times Magazine, wo ich nur feststellen kann: Dieses Magazin hat jeden Sonntag genau jene grosse Geschichte, von der ich sagen muss: Exakt diese Story musste man an dem heutigen Sonntag präsentieren..

Nur: Wie machen die das mit  Auftragsvergabe und Vorproduktion?

Nach gut dreieinhalb Stunden legte ich die Zeitung und ihr Magazin  zur Seite. Es ist in der Zwischenzeit Sonntagnachmittag geworden und eigentlich hätte etwas tun sollen, vielleicht mal das Deck des Bootes reinigen können oder auch nur joggen gehen.

 Doch ich fühle mich überwältigt und glücklich, irgendwie, ja genau: glücklich, dass ich an dem Sonntag nichts anderes getan habe, als die beste Zeitung der Welt in der Hand gehalten zu haben.

1 Kommentar:

  1. The NYT webpage is my default page for internet browsers, and yes, it's my beloved reading -- topped only by The New Yorker, which I have had no energy and time to read these past two years. David's getting me an e-reader for Mother's Day just so I can start reading it again -- and not disturb his sleep with my late-night lamplight.

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